Moderne Weihnachtsgeschichten

Großvaters Notlüge

„Aber alle anderen gehen auch weg, Papa!“ Veronika stampfte erbost mit dem Fuß auf. Ihr Mund verzog sich zu einem Schmollen und erinnerte Bernd unwillkürlich daran, wie sie als kleines Mädchen ausgesehen hatte. Nun war Veronika schon 18 Jahre alt, ein hübsches Mädchen. Sie hatte die strahlenden Augen ihrer Mutter Petra und das schwarze Haar ihrer Großmutter.
„In unserem Haus wird Weihnachten gefeiert, Vroni, und nicht in die Diskothek gegangen. Und das ist mein letztes Wort.“ Bernd hob sich die Zeitung wieder vor das Gesicht als Zeichen, dass er keine weitere Minute mehr auf diese Diskussion verschwenden wollte. Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und Petra kam mit erröteten Wangen in die Küche. In beiden Händen hielt sie prall gefüllte Tüten vom Einkaufsmarkt und sie ließ diese erschöpft los, bevor sie sich auf einen Stuhl fallen ließ.

„Verrückt, ehrlich verrückt! Da kommen ein paar Feiertage, und schon drehen die Leute durch. Ihr macht Euch keine Vorstellung, was da draußen los ist.“ Zur Antwort bekam Petra von ihrer Tochter nur ein mürrisches Nicken, Bernd hingegen ließ die Zeitung sinken und lächelte seine Frau an.
„Es ist wie in jedem Jahr, Liebes, das weißt Du doch.“ Petra sah Veronika ins Gesicht. Sie fragte mit mürrischem Unterton: „Haben wir etwa schon wieder eine mittlere Krise, weil Du an einer Nacht im Jahr nicht ausgehen darfst?“ Veronika verzog das Gesicht, öffnete den Mund, entschied sich dann jedoch zum Schweigen. Petra stöhnte gequält auf. „Warum geht ihr beiden nicht und schmückt den Baum? Oma und Opa werden nach dem Mittagessen hier aufkreuzen, und ich möchte, dass bis dahin alles fertig ist.“ Sofort erhob sich Bernd und nickte zustimmend, er küsste seine Frau auf die Stirn und verließ die Küche. Veronika wartete einen Moment, dann erhob sie sich ebenfalls, und folgte ihrem Vater mit einem Brummen auf den Lippen. Petra lächelte. Die beiden würden sich schon zusammenraufen. Bis heute Abend würde die ganze Aufregung in Vergessenheit geraten sein. Petra machte sich an die Vorbereitungen fürs Festessen.

Pünktlich um 7 Uhr saß die Familie mit den Großeltern im Wohnzimmer zusammen. Wie in jedem Jahr hatte Veronika gerade die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, und Großvater nickte anerkennend. „So war es immer schon gewesen,“ sagte er mit einem Lächeln. „Die Familie ist zusammengekommen, wir haben gegessen, Weihnachtslieder gesungen, die Weihnachtsgeschichte gelesen und dann gab es die Bescherung. Schön, dass manche Traditionen nicht vergessen werden.“
Bernd sah seinen Schwiegervater an und nickte. Mit einem Seitenblick auf seine Tochter murmelte er: „Manchmal ist es schwer, die Tradition aufrechtzuerhalten.“ Veronika warf ihrem Vater einen vernichtenden Blick zu, sagte jedoch nichts.

Großvater zog fragend die Augenbrauen hoch. „So, Bernd? Aber warum nur?“ In kurzen Sätzen erklärte Bernd was seit Tagen Thema in der Familie war. Veronika wollte nach der Bescherung ausgehen, ihre Freunde treffen und tanzen. Sein Schwiegervater atmete tief ein und schwieg für einige Minuten. Langsam legte er seine Hand auf die seiner Frau und hob dann an, um zu sagen: „Weißt Du, Bernd, auch das ist irgendwie Tradition.“ Er hielt den Blick seines Schwiegersohns mit seinem fest, als er begann zu erzählen. „Als wir noch jung waren, damals im Krieg, da war Weihnachten ein Fest der Familie. Jede Familie sah zu, dass es zumindest an diesem Abend ein festliches Mahl gab. Natürlich fiel das Weihnachtsessen nicht so luxuriös wie heute aus, und doch war es etwas ganz besonderes. Die Bescherung fiel natürlich auch kleiner aus als heute, ich erinnere mich noch genau, dass meine Schwester eine Puppe bekam, die mein Vater aus einem Stück Holz geschnitzt hatte. Meine Mutter hatte aus alten Stoffresten ein Kleidchen für die Puppe gemacht, und ich bekam ein Holzauto, ebenfalls von meinem Vater geschnitzt. Und doch waren diese Geschenke etwas Tolles, etwas Einzigartiges. Nach der Bescherung spielten wir Kinder mit unseren Sachen, wurden jedoch bald zu Bett geschickt. Und die Eltern gingen tanzen. Sie trafen sich mit Nachbarn und Freunden in großen Scheunen, um Erinnerungen an bessere Zeiten zu teilen. Es wurde getrunken, getanzt und gelacht, um wenigstens für ein paar Augenblicke dem tristen Kriegsalltag zu entkommen.“ Der Großvater schwieg und sah in die Runde. Es war still im Raum. Veronika lächelte. „Aber ihr schickt mich doch nicht ins Bett, oder?“

Der Großvater schüttelte den Kopf und sah zu Bernd. „Warum lassen wir die alte Tradition nicht aufleben, und schwingen heute alle gemeinsam das Tanzbein? Ich war noch nie in einer dieser modernen Diskotheken, und ich muss sagen, ich bin neugierig.“ Ungläubig starrte Veronika den Großvater an, auch Bernd saß mit offenem Mund da. „Was?“ Opas Frage war scharf: „Meint ihr etwa ich sei zu alt dafür? Ich mag vielleicht vom alten Eisen sein, aber mein Herz ist jung geblieben.“ Bernd nickte mit einem Grinsen. „Nun, wenn Du gerne mal in eine Diskothek möchtest, dann sollten wir dir diesen Wunsch nicht abschlagen, oder?“ Kaum waren seine Worte verklungen, sprang Veronika auf und warf sich dem Großvater in die Arme. Kichernd flüsterte sie: „Du bist der beste Großvater, den es gibt.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Nur wenig später fand sich die Familie zur „X-Mas-Party“ in der Disco wieder. Natürlich zog Großvater die Augen aller auf sich, als er seine Frau zur Tanzfläche führte, und ausgelassen, wie ein junger Mann das Tanzbein schwang. Bernd und Petra taten es ihm gleich. Veronika beobachtete das Geschehen, und nachdem der Tanz der Großeltern geendet hatte, setzte sie sich zu ihnen an die Bar. „Danke Opa, dass Du Papa erzählt hast, dass man früher auch an Weihnachten tanzen ging.“ Der Großvater lächelte verschmitzt. „Weißt Du, Veronika, niemand ging am Heiligen Abend jemals Tanzen in unserer Zeit. Aber es ist kein Schaden, die alten Traditionen mit ein paar Neuen zu ergänzen. Diese kleine Notlüge hat mir eine Menge Spaß gebracht, Vroni. Und wer hätte gedacht, dass ich in meinem Alter noch einmal in eine Diskothek komme?“ Großvater zwinkerte Veronika zu, dann nahm er die Hand seiner Frau und sagte: „Lass uns nach Hause gehen, ich denke, wir haben Vroni ein schönes Geschenk gemacht. Sie braucht unsere Hilfe heute nicht mehr.“


Weihnachten mit Hindernissen

Jedes Jahr zu Weihnachten gerät Maria, die Namensgleichheit mit der Mutter des Christkindes war durchaus von der Familie gewollt, in richtigen Stress. Schließlich hat sie die Verantwortung für ein perfektes Weihnachtsfest für die ganze Familie. Schon in den Wochen vor Heiligabend muss vieles vorbereitet werden. Da muss Maria Geschenke aussuchen, einpacken und vor den neugierigen Augen der Familie versteckt halten. Die Auswahl des passenden Geschenkes für so manches Familienmitglied fällt nicht immer gerade leicht. Da ist z. B. die 15jährige Kirsten, Marias Nichte, die in ihrem Alter natürlich einen sehr eigenwilligen Geschmack hat. Die Oma von 95 Jahren, die zwar gerne nascht, aber es nicht darf und ansonsten ja auch schon alles hat. Sicher wäre es einfacher, jedem Familienmitglied einfach einen Gutschein zu übergeben, doch da würde der Weihnachtssegen mit Sicherheit schief hängen. In diesem Jahr war Maria allerdings früh dran. Schon am 2. Advent konnte auf der Weihnachtscheckliste der Punkt Geschenke als erledigt abgehakt werden.

Doch jetzt folgt noch die Planung des Weihnachtsessens. Auch ein Akt für sich. Schließlich will Oma am liebsten eine Gans, weil es an Weihnachten halt so Tradition bei Meiers ist. Opa bevorzugt da eine Ente, weil die nicht so fettig ist. Und Maria tendiert eigentlich eher zu Kartoffelsalat und Würstchen am Heiligen Abend, so wie ihre Mutter dies Problem in den Jahren ihrer Kindheit auch immer gelöst hat. Schließlich geht die ganze Familie vor dem Abendessen in die Kirche und zudem kann es den anderen doch auch nicht gefallen, wenn Maria an den Feiertagen mit den Nerven völlig runter ist. Also schnell noch zum Metzger in der Stadt gefahren und die leckeren Brühwürste sowie den hausgemachten Kartoffelsalat gekauft. So kann Maria auch diesen Punkt auf ihrer Weihnachtscheckliste als erledigt betrachten.

Maria macht sich auch frühzeitig auf die Suche nach dem passenden Weihnachtsschmuck, denn schließlich muss das ganze Haus in festlichem Glanz und in gewohnter, weihnachtlicher Perfektion erstrahlen. Einen perfekten Weihnachtsbaum wollte Maria haben. Die Lichterketten funktionieren noch, dass hatte sie getestet. Die Weihnachtskugeln, sie stammten noch aus den Kindertagen, waren Gottlob heil geblieben. Lametta ist auch noch ausreichend vorhanden. An die Tür kommt der obligatorische Weihnachtskranz und auf die Fensterbank die Weihnachtspyramide mit den hübschen Engeln. Fehlt nur noch die Krippe, die auch schon viele Weihnachten bei Maria erlebt hatte. Und schon erstrahlt die ganze Wohnung in weihnachtlichem Glanz.

Maria kann gar nicht verstehen, warum so viele Leute sich über Weihnachtsstress beklagen. Bei ihr ist alles perfekt und in der richtigen Zeit organisiert. Wochenlang wie ein angestochenes Huhn durch die Gegend zu laufen, ist eben nicht Marias Stil. Weihnachten kann auch in der Einfachheit perfekt sein. Am Fest der Liebe geht es schon zum Mittagessen los, wenn die Eltern ankommen. Die Schwiegereltern rücken meist erst am Nachmittag an und bringen Stollen mit. Auch eine Tradition zum Kaffee am Heiligen Abend, Stollen zu essen. Dann werden die ewig neuen, alten Geschichten erzählt und alle sind froh als Marias Vater einen schönen Weihnachtsspaziergang vorschlägt. Die Familie wandert also durch die Siedlung bis an das Ufer des Rheins. Leise fallen ein paar Schneeflocken. Die Gärten erstrahlen im Licht der Weihnachtsbeleuchtung und die hell erleuchtete Kirche wirkt irgendwie verlockend. Also geht die Familie heute doch in die Kirche, obwohl das in diesem Jahr eigentlich nicht geplant war. Nach dem Gottesdienst geht es langsam wieder zurück nach Hause. Erwartungsvoll schaut Maria zu ihrem Mann hinüber und wartet darauf, dass er die Haustür aufschließt. So langsam wird es nämlich allen kalt.

Ihr Mann schaut allerdings fragend Maria an, denn er hat keinen Schlüssel. Er ist fest davon überzeugt, dass Maria den Schlüssel eingesteckt hätte. Damit hat sich die perfekte Weihnacht zu einer Katastrophe entwickelt. Marias Nachbarin hat den Auflauf vor dem Haus bemerkt und kommt heraus, um nach dem Rechten zu sehen. Maria bittet ein bischen kläglich darum, einmal telefonieren zu dürfen, weil sie dringend einen Schlüsseldienst bräuchten. Die Nachbarin ist eine sehr liebenswerte Frau und bittet die ganze Familie herein zu kommen, damit sich keiner an Weihnachten noch eine Erkältung holt. Maria wehrt zunächst ab. Schließlich ist Weihnachten, da kann man doch nicht stören. Doch die Nachbarin ist der Meinung, dass gerade an Weihnachten doch schließlich jeder Willkommen sein sollte.

Maria und ihre Familie lassen sich also überreden. Sofort fällt Maria auf, dass sie hier stören, denn perfekt ist in diesem Haus wirklich nichts. Der Nachbar und sein Vater versuchen krampfhaft den Weihnachtsbaum aufzustellen. Die Lichterkette hängt äußerst wirr in den Ästen und der meiste Baumschmuck befindet sich an den unteren Ästen. Sieht so aus, als wäre der Sohnemann des Hauses mit dem Schmücken beauftragt worden. Aber was für einen Baumschmuck haben die Eltern ihm da an die Hand gegeben. Strohsterne und kleine Päckchen aus Pappe sowie Glanzpapiergirlanden hängen kreuz und quer im Weihnachtsbaum. Alles wirkt ein bisschen schief. Alles, bis auf das glückliche Lächeln der Nachbarsfamilie. Aus der Küche kommt die Tochter des Hauses. Von oben bis unten ist sie mit Mehl befleckt und in der Hand hält sie einen Teller mit selbstgebackenen Keksen. Perfekt ausgestochen sind die allerdings auch nicht. Um höflich zu sein, probiert Marias Familie die Kekse dann allerdings doch und sie schmecken tatsächlich hervorragend.

Die Herrin des Hauses kommt inzwischen mit Kaffee aus der Küche. Ein Stapel Geschirr und Besteck hat sie ebenfalls im Gepäck. Was nun folgt, ist die unkomplizierte Einladung zum Weihnachtsessen. Aber das geht doch nicht. So etwas kann man doch gerade an Weihnachten nicht annehmen, denkt zumindest Maria. Sie schaut zu ihrer Familie und stellt fest, dass ihr Mann mittlerweile beim Aufstellen des Weihnachtsbaums hilft. Ihr Vater hat den Junior der Nachbarn auf den Schultern und hilft ihm beim Schmücken des Baums. Marias Tochter sitzt mit der Nachbarstochter kichernd auf dem Sofa und tauschen Keksrezepte aus. Und Marias Mutter scheint verschwunden zu sein. Maria findet sie mit der Nachbarin in der Küche. Die beiden Frauen pellen gemeinschaftlich Kartoffeln und schnippeln sie in eine riesige Schüssel. Die Nachbarin stellt strahlend fest, dass der Kartoffelsalat bald fertig sei.

Und so findet das Weihnachtsessen von Marias Familie ganz automatisch am Tisch der Nachbarn statt, auch wen man ein wenig zusammenrücken muss. Das ist aber allen völlig egal, ebenso wie das zusammengewürfelte Geschirr. Der Salat schmeckt lecker und die Würstchen sind heiß. Und alle finden, dass dies ein perfektes Weihnachtsfest eigentlich immer genau so aussehen sollte.

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